Lilith
Über das Stück
Lilith, eine Irrende durch die Glaubensgeschichte, hat keine Lebensessenz mehr. Sie sucht diese in den Menschen. Doch nicht einmal die extremen Emotionen, die ein Mensch etwa beim Sex oder Töten empfindet, können ihren Hunger stillen. Getrieben von tiefer Todessehnsucht, schlüpft Lilith in den toten Körper einer Selbstmörderin, um ein Gebet an Gott zu richten. Ein Gebet um völlige Vernichtung. Horror trifft hier auf Poesie, die Sinnlichkeit des Alltags auf Mythologie.
Text, Inszenierung: Witek Danielczok
Schauspiel: Maria Wolf
Stimmen: Ludwig Goosen, Nicola Mastroberardino, Steffen Reuber
Sound Design: Bernd Schmidt
Dauer: ca. 60 Minuten
Uraufführung am 6. Oktober 2011
im Theater der Gezeiten, Bochum
Mit freundlicher Unterstützung der Stadtwerke Bochum
Aus dem Text
Ich komme aus dem Wald
Wenn der leichte warme Wind
Die ersten Tiere trächtig macht
Ich komme über die Felder
Wenn der Geruch des Erwachens
Aus der dunklen Erde steigt
Das
Sind Zeichen
Für mich
Nichts mehr
Seit jeher täuschen sie vor
Die Essenz in den Menschen reift
Und wird schwer
Man muss sie nur pflücken
Mit den Händen direkt
Von ihren Körpern
So gehe ich nachts über die Felder
Vorbei an Dörfern
Wo Bauern, die meine Nähe immer spüren
Ihre Essenz aufs Minimum reduzieren
Beim Kerzenlicht
Als hätten sie keinen Strom
In ihren Häusern
Fasten sie
Und murmeln so leise
Dass ich es draußen in der Dunkelheit
Hören kann
Zu ihren Enkelkindern
Die Legende von der untoten Frau
Die sich im Frühling an Menschen
Heranmacht
Die der Erde abgeschworen haben
Den Tieren und den Jahreszeiten
Geht niemals weg – murmeln sie –
Und ihr werdet verschont bleiben
O wie recht diese alten Bauern haben
Pressestimmen: Ruhrnachrichten
Im geborgten Körper auf der Suche nach starken Gefühlen
Sie zuckt mit dem Oberkörper, der eben noch wie leblos in dem Sessel lag. Sie stößt unmenschliche, urschreiartige Geräusche aus, blinzelt aus schwarzgeränderten Augen. Lilith windet sich in dem Körper. Es ist wie Tod und Geburt zugleich.
Wie in ein Kostüm fährt die mythische Dämonin in den Leib der Selbstmörderin, das Blut haftet noch an ihren Handgelenken. Die Frau ist tot, doch Lilith, gespielt von Maria Wolf, sucht nach Leben. Witek Danielczok, Autor und Regisseur, schickt in der neuen Inszenierung des Theaters Zeitmaul eine Gestalt auf Reisen, die älter ist als die Zeit.
Am Donnerstag war im Theater der Gezeiten Premiere. Der Auftakt des Stücks: ein Pulsschlag. “Mein Herz schlägt nur einmal in der Stunde. Dazwischen nichts als Leere“, haucht Lilith ins Dunkle. Eine Stunde, in der sie aus dem Wald heraus in die Stadt zieht, dürstend nach menschlichen Emotionen, dem Treibstoff ihrer Seele. Stark müssen sie sein und abgründig, die Essenz der Menschen.
Sie, die Heimatlose, aus dem Garten Eden Verbannte, gleitet durch die Nacht. Sie ist der Wind, der in die Körper hinein fährt. Sie ist der schwarze Parasit, der sich in düstere Seelen bohrt, diese noch extremer handeln lässt.
Ein Mann, der seine Frau verdrischt. Der kleine Sohn im Nebenzimmer, der um die Mutter bangt, dem sie, einem Schatten gleich, das Leben aussaugt. “Oh Gott“, wispert es im Publikum. Lilith ist nichts für Harmoniebedürftige. Das Faszinierende daran: das Szenario auf der Bühne ist absolut schlicht gehalten. Ein einfaches Kostüm, wenig Spielerei mit der Beleuchtung – und nur eine Schauspielerin, nur Maria Wolf. Dann und wann erklingen Stimmen oder Geräusche vom Band.
Wolf schafft es, die Szenarien des monologischen Stücks direkt in die Vorstellungswelt der Zuschauer zu transportieren. Und so sehen sie ihn eben doch, den Psychopathen, der die Frau erwürgen will. Die wendet sich, gesteuert von Lilith, der der Mann nicht extrem genug ist, gegen den Mörder und erschlägt ihn.
Doch all das bleibt nicht in Lilith, erfüllt sie nicht dauerhaft mit Essenz. Vielleicht, weil die Menschen der Gegenwart auch leer sind. So schlägt ihr Gebet, der Rahmen des Stücks, in ein Flehen um. Ein Flehen um Vernichtung. Doch statt dieser folgt ein Herzschlag.
Julia Wessel, Ruhr Nachrichten, 7. Oktober 2011
Pressestimmen: Ruhrbarone
Lilith – Monolog mit Maria Wolf im Theater der Gezeiten
Sehen:
Ich sehe eine Tote, hingestreckt auf einem Stuhl. Die Arme hängen über den Lehnen. Ich sehe eine Tote, die zurückgezwungen wird ins Leben. Ein Herzschlag, noch nicht ihrer, der sie zwingt zu atmen. Ich sehe eine Untote, sich an etwas erinnernd, die jemanden anruft und das fällt ihr schwer. Ich sehe eine Frau, schön, verstört und bemitleidenswert. Ich sehe eine Frau, eiskalt, berechnend und erbarmungslos. Ich sehe eine Frau, die ein Mädchen imitiert. Ich sehe eine Angestellte, die mit ihrem Chef hadert. Ich sehe einen Dämon, der Gott befiehlt. Ich sehe eine Tote, die ein Herzschlag durchzuckt, der nicht mehr ihr gehört.
Hören:
Ich höre ein Röcheln, das sich entrüstet anhört. Ich höre eine Erzählung über Essenzen, die es nur in Menschen gibt. Essenzen, die Leben schenken. Leben, das vor tausenden Jahren erstmalig erlosch und immer und immer wieder neu erweckt wird. Mit dem unstillbaren Durst nach diesen Essenzen. Ich höre von den, mal mehr, mal weniger erfolgreichen Versuchen, mit den Essenzen den Köper lebendig zu halten. Ich höre Zweifel. Ich höre Bestimmtheit. Ich höre Hass, Unverständnis, Flehen, Locken, Schmeicheln und Befehlen.
Ich höre das Ende: “Nein“
Denken:
Maria Wolf, großartig. Geschminkt wie ein Stummfilmstar, agiert sie vor einer beinahe leeren Kulisse und zieht mit ihrer Mimik in den Bann, sobald sie den Kopf heben darf. Das dauert aber einige Minuten, nicht ungeduldig werden. Sie betritt den Zuschauerraum und die Frage, ob sich Lilith als nächsten Essenzgeber jemanden aus dem Publikum erwählt, ist ob Wolfs körperbetontem Spiel angebracht. Der Text bietet Geschichten, die erzählt werden. Fragen, die aufgeworfen werden. Und Feststellungen, die anschaulich argumentiert werden. Nur einmal wird es zu pathetisch, nämlich als Lilith all das Unrecht, das jemals an Frauen begangen wurde, mit Hilfe eines Knüppels in einen Mann zurückprügelt.
Empfehlen:
Ja! Hingehen, angucken! Aber machen Sie sich darauf gefasst, dass Lilith Sie an dem Abend noch ein Stück begleitet.
Carola Osburg, Ruhrbarone, 30. Oktober 2011